Was sie immer gerne vergessen
- pantisano
- 30. Mai
- 3 Min. Lesezeit

Ich bin ein wenig traurig, denn morgen trifft sich in Waiblingen meine ehemalige Klasse zu einem Klassentreffen. Ein Wiedersehen nach 35 Jahren und ich kann leider nicht dabei sein.
Als ich nach Deutschland zurückkam, das war 1986, kam ich genau in diese 6. Klasse der Karolinger Hauptschule in Waiblingen. Ich war 12 Jahre alt und ich sprach nicht ein Wort Deutsch. Kein "Ja", kein "Nein" - einfach nichts. Ich muss heute noch lachen, wie unsere ehemalige Lehrerin Frau Müller viele Jahre später zu mir sagte, dass ich sie mal in meiner manchmal ungehaltenen Art, vermutlich weil mich irgendetwas belastete oder verärgert hatte, mit "Du, Frau, komm!" zu mir an den Tisch rufte.
Wir waren eine Klasse mit fast ausschließlich Kindern mit Migrationsbiografie. Wie groß die Probleme damals an unserer Schule waren, kann ich heute nicht mehr sagen. Hatten wir überhaupt welche? Das frage ich mich seit ein paar Jahren immer wieder mal, weil wir ja alle mitbekommen, wie groß die Problemen an vielen Schulen heute sind. Was hat sich verändert und wie kann man das alles heilen, was aktuell nicht so zu sein scheint, wie es sein müsste?
Ich kann mich auch erinnern, dass meine Eltern große Schwierigkeiten mit dem Thema Schule hatten. Ich werde heute noch sauer, wenn ich darüber nachdenke, dass ich immer, wenn ich nach einer Klassenarbeit die entsprechende Note Zuhause verkündete, ich werde heute noch traurig darüber, dass jahrelang mein Vater und meine Mutter mich fragten "Ist das eine gute Note?". Sie konnten sich einfach nicht merken: Eine Eins ist großartig, eine Sechs eher ein großes Problem und das dazwischen eben immer verbesserungswürdig. Diese Frage war immer gesetzt, wenn ich, wenn mein kleiner Bruder Luigi mit Noten heimkamen.
Wenn ich das erzähle, dann höre ich die Stimmen, die aus einer privilegierten Haltung heraus, sich ein vorschnelles Urteil über Eltern insgesamt, aber vor allem auch über Eltern mit Migrationsbiografie machen.
Denn was in all diesen Diskursen, die wir heute an Schulen hören, gerne immer vergessen oder schlicht übersehen wird: Wenn Eltern und Familien mit Migrationsbiographie sich an Schulen wenig einbringen, dann hat das nicht immer, wie oft vermutet, mit angeblichem Desinteresse zu tun, sondern vor allem mit vielen anderen Faktoren.
Schichtarbeit, Alleinerziehung von Kindern, Care-Arbeit ... all das stellt eine Hürde für alle Familien dar - gerade wenn es um ein sich Einbringen in Schule handelt. Mit Blick auf sehr viele Schulen kommen in den verschiedensten Familien auch Sprachbarrieren und daraus resultierende Scharmgefühle hinzu. Das kenne ich auch noch aus meiner Biographie, das werden meine Schulfreund*innen Zoltan, Hulusi, Semiha und all die anderen auch bestätigen können.
Unsere Eltern kamen also oft nicht zu den Elternabenden dazu, weil sie Situationen vermeiden wollten, wo sie nichts verstanden und gerade auch nicht sagen konnten. Bei meinen Eltern kam auch noch der geringe Bildungsstand dazu - meine Mutter hatte förmlich Panik davor in eine Situation zu kommen, wo sie was schreiben müsste, denn das konnte sie schon schwer auf italienisch, aber auf deutsch war das einfach meistens nicht drin. All das hatte nichts mit Desinteresse dazu.
Diese Hürden sind heute, 35 Jahre nach Ende unserer Schulzeit aber immer noch da. Wenn wir also in allen Familien einen Diskurs über Teilhabe, aber auch über Mobbing, Rassismus oder auch Queerfeindlichkeit an Schule und Bildung effektiv ansprechen und somit auch begegnen und bekämpfen wollen, dann ist das System Schule aufgefordert Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich alle Eltern gleichermaßen einbringen und mitwirken können.
Denn da, wo es ihnen möglich war, haben unsere Eltern genau gezeigt, wie sehr sie sich gerne eingebracht hätten, wenn sie nur gekonnt hätten: Immer dann, wenn es für ein Fest einen Kuchen oder einen Salat gebraucht hat, dann haben unsere Eltern nicht eins davon beigesteuert, sondern bei meiner Mutter war das immer ein halbes Büffet, also Pizzen, Tiramisu, Kuchen und Torten.
Wie wäre es also nur gewesen, wenn schon damals die Zugangsmöglichkeiten für unsere Eltern mit besonderem Bedarf anders gewesen wären? Und wie wäre es heute, wenn wir aus den Geschichten und auch eventuellen Fehlern von damals, dazugelernt hätten?
Das kann ich nicht sagen - darüber kann ich nur spekulieren. Was ich aber sagen kann: Wir Kids unserer damaligen Klasse haben alle tolle Biografien hingelegt und aus uns allen ist was geworden - Dank unserer sehr engagierten Lehrer*innen, wie unseren Herrn Ikker, aber auch dank unserer Eltern und Familien, die uns immer begleiten haben, so gut es ihnen möglich war.
Ich wünsche meiner ehemaligen Klasse ein großartiges Fest und allen Kids da draußen, dass sie von heute aus gesehen, also in 35 Jahren, ähnlich wie ich, ähnlich wie wir auf ihre Entwicklung und Geschichten zurückschauen können.



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