THE LINE BETWEEN US
- pantisano
- 23. Aug.
- 7 Min. Lesezeit

In Berlin-Mitte ist derzeit eine Ausstellung zu sehen, die einen Titel trägt, der hängenbleibt: „The Line Between Us“ – die Linie zwischen uns. Elf Fotograf*innen zeigen Arbeiten, die von der Laif Agentur und der Laif Foundation kuratiert wurden. Bei der Eröffnung durfte ich ein Grußwort sprechen und dabei der zentralen Frage nachgehen: Ist der gesellschaftliche Umgang mit der LGBTQIA-Bewegung ein Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie?
Meine Antwort lautet: Ja. Und im Folgenden will ich versuchen zu erklären, warum.
Wer diese Ausstellung besucht, wird in der Regenbogenhauptstadt in einen Raum der Bilder und Geschichten treten. Ein Raum, der spüren lässt, was Linien bedeuten können. Eine Linie kann trennen. Sie kann schützen. Sie kann ein Eintrag in einer Liste sein, ein Strich im Protokoll. Aber sie kann auch eine Polizeikette auf der Straße sein.
In der Fotografie lenken Linien den Blick: Was gerät in den Fokus, was bleibt im Schatten? In der Politik ist es nicht anders. Linien sind keine Naturgesetze – sie sind Entscheidungen. Wer heute entscheidet, zwischen uns eine Linie zu ziehen, entscheidet morgen, durch wen sie verlaufen wird.
Schauen wir zuerst auf die leise, fast unsichtbare Linie: die Sprache.
Seit Jahren tobt in Deutschland ein Kampf um Worte. Viele tun das ab: „Sternchen, Doppelpunkt, Binnen-I – ist das wirklich wichtig?“ Ja, es ist wichtig. Sprache ist nicht nur Beschreibung, sie ist Werkzeug. Wer genderinklusive Sprache verbietet, sagt nicht: „Ich liebe die alte Grammatik.“ Er sagt: „Du kommst in meinen Sätzen nicht vor.“ Erst verschwindet man im Satz, irgendwann aus dem Gemeinwesen. Es beginnt als Stilfrage und endet zu oft als Ausschluss.
Die zweite Linie verläuft in Karteikästen und Datenbanken: Listen. Unsere Geschichte kennt „Rosa Listen“. Wer einmal auf einer Liste steht, ist nicht mehr ein Mensch mit Rechten, sondern ein verwalteter Verdacht. Deswegen sage ich klar: Es darf nie wieder pauschale Erfassungen und Sonderregister geben – auch nicht „nur zur Sicherheit“. Denn von der Datenbank zur Diskriminierung ist es oft nur ein Verwaltungsakt. Der Rechtsstaat muss Menschen schützen, nicht sie katalogisieren.
Die dritte Linie führt nach Russland. 2013: das sogenannte „Anti-Homo-Propaganda“-Gesetz. 2022: Ausweitung auf alle Altersgruppen. 2023: Die „internationale LGBT-Bewegung“ wird zur extremistischen Organisation erklärt. Aber was bedeutet das? Konten einfrieren. Kandidaturen verhindern. Aktivist*innen kriminalisieren. Sichtbarkeit bestrafen. Das ist kein Kulturkampf, das ist Staatsgewalt gegen Bürgerrechte. Und weil Autoritarismus immer ein Gesamtpaket ist, war diese Linie nie die letzte.

Wer zuerst die Nachbarin mit der Regenbogenanstecknadel zur Gefahr erklärt, erklärt morgen Journalist*innen zur Gefahr und übermorgen Richter*innen. Die Linie, die zwischen Menschen gezogen wurde, wurde später zur Frontlinie. Das Verbot der Sichtbarkeit war ein Frühwarnsignal für die Radikalisierung des Systems.
Die vierte Linie führt in die USA. Auch dort sehen wir, wie Demokratien sich von innen aushöhlen können, oft beginnend bei queeren Menschen, besonders bei trans Personen. Neue Gesetzesinitiativen, die Gesundheitsversorgung angreifen, Sichtbarkeit in Schulen verbieten, Teilhabe im Sport verwehren. Das ist kein Randthema.
Es ist eine Strategie: Erst wird eine Minderheit delegitimiert. Dann werden Institutionen umgebaut. Was dabei ganz deutlich wird: Wer bestimmen will, welche Identitäten „erwünscht“ sind, verliert den pluralistischen Kompass.
Und wir? Auch hier, in Deutschland, in unserer Stadt, nehmen die Übergriffe zu. Jede queerfeindliche Attacke ist nicht nur ein Schlag gegen einzelne Körper. Sie ist ein Stresstest für unser Gemeinwesen. Wenn Betroffene diese Angriffe nicht mehr melden, weil sie davon erschöpft sind oder dem System nicht mehr vertrauen, verliert die Demokratie ihren Resonanzraum. Dann wird aus der Sicherheitsdebatte eine Angstdebatte – und Angst ist ein miserabler Ratgeber für Freiheit.
Ich sehe das tagtäglich auch bei den Jüngsten. In den queeren Jugendclubs unserer Stadt und in den Schulen treffe ich Jugendliche, die auf ihren Armen unzählige Linien tragen – Linien, die sie sich selbst zugefügt haben. Ritzen, Narben, die aus Verzweiflung entstanden sind. Es sind stumme Hilferufe, in die Haut geritzt, weil sie nicht mehr wissen, wie sie in einer Welt überleben sollen, die ihnen Tag für Tag signalisiert: Du bist nicht gut genug, so wie du bist. Diese Linien erzählen von einem Schmerz, der leise bleibt, solange wir nicht hinschauen – und sie mahnen uns, dass die gesellschaftliche Ablehnung längst nicht abstrakt ist, sondern in Körpern eingeschrieben wird.
An diesem Punkt wird klar, warum diese Ausstellung gerade jetzt so wichtig ist.
Sie zeigt uns, warum Bilder politisch sind. Und sie zeigt uns auch, warum Politik Bilder fürchtet.
Die hier gezeigten Arbeiten feiern Empowerment und Miteinander.
Sie zeigen Unsichtbarkeit als Überlebensstrategie und sie zeigen den Preis der Sichtbarkeit. Genau deshalb sind die Angriffe auf queere Kunst, Bücher und Sprache so heftig: Bilder öffnen Möglichkeiten. Sie ziehen neue Linien der Zugehörigkeit. Und sie stellen alte Normen in Frage.

Denken wir fotografisch. Eine lebendige Demokratie braucht einen weiten Bildausschnitt: nicht nur Porträts der Mehrheit, sondern auch die Ränder, die Zwischenräume, das Unscharfe.
Sie braucht Belichtung für alle, nicht nur für die, die ohnehin im Rampenlicht stehen. Und sie braucht Brennpunkte, an denen wir scharf stellen: Wo kippt Sprache in Stigma? Wo wird Verwaltung zu Kontrolle? Wo wird „Schutz“ zum Vorwand, Freiheit zu beschneiden?
Ich sage das nicht abstrakt. Ich bin heute 51 Jahre alt. Zwischen 17 und 20 habe ich selbst professionell fotografiert. Seit meinem 28. Lebensjahr stehe ich auch vor der Kamera – bis heute.
Ich kenne den Blick durch die Linse und den Blick in die Linse. Ich weiß, wie ein kleiner Dreh an der Brennweite Nähe schafft oder Distanz. Ich weiß, wie ein Bildausschnitt würdigen kann – oder Menschen aus dem Rahmen schneidet. Und ich kenne dieses Gefühl, gelesen, bewertet, archiviert zu werden. Eine Linse kann schützen, eine Linse kann verzerren.
Vielleicht genau deshalb nehme ich oft diese Linien so früh wahr: in Schlagzeilen und Gesetzen, in Verwaltungsakten und Algorithmen, in Blicken auf der Straße. Seit Jahren warne ich: Die gefährlichen Linien – die Verbote, Listen, Ausgrenzungen – müssen wir stoppen. Die schützenden Linien aber, die Grundrechte, klare Zuständigkeiten, Ressourcen, sichere Räume, müssen wir dicker, deutlicher, unübersehbar ziehen.
Die Ausgangsfrage lässt sich so in drei Sätzen beantworten!
Erstens: Ja, der Umgang mit queeren Menschen ist ein Gradmesser für Demokratie, weil er zeigt, ob eine Gesellschaft Minderheitenrechte als Menschenrechte verteidigt – oder ob sie Rechte zur Abstimmung stellt. Menschenrechte sind kein Buffet, an dem man sich bedienen kann, je nachdem, wie hungrig oder satt wir sind.
Zweitens: Ja, er ist ein Frühwarnsystem, weil autoritäre Projekte fast immer bei den Körpern anfangen: Sprache beschneiden, Listen anlegen, Sichtbarkeit bestrafen – und dann Schritt für Schritt den demokratischen Raum verengen. Russland liefert dazu ein bedrückendes Lehrbuch. In vielen US-Bundesstaaten sehen wir die Dynamik in Echtzeit.
Drittens: Ja, er ist ein Heilungsmesser. Eine Demokratie, die queere Menschen schützt, schützt alle besser: Frauenrechte, Minderheitenrechte, Kunstfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit – alles hängt zusammen. Wenn man uns trifft, erzittert das ganze Fundament.
Die eigentliche Aufgabe lautet: Wir müssen die Linie neu ziehen. Nicht eine Linie, die trennt, sondern eine, die schützt, also eine Linie, hinter der niemand allein gelassen wird. Nicht eine Linie durch Körper, sondern eine unter dem Hass. Nicht eine Liste von Namen, sondern eine Kette von Händen.
Konkret heißt das: Wir müssen die Sprache öffnen. Schulen, Verwaltungen, Medien – wer Vielfalt ernst meint, lässt Menschen in ihren eigenen Worten existieren. Das ist kein Stil, das ist Respekt.
Noch etwas: Wir brauchen Schutz statt Listen. Keine pauschalen Register. Ermittlungszugriffe müssen gezielt und rechtsstaatlich bleiben, nicht in Vorverdacht gegossenes Misstrauen.
Und wir brauchen Ressourcen genau dort, wo es brennt: Beratungsstellen, Jugendclubs, Unterkünfte, Gesundheitsversorgung. Denn Sichtbarkeit kostet Kraft. Wer Sichtbarkeit politisch fordert, muss Schutz finanziell sichern.
Wir müssen auch Bündnisse schließen: Queerfeindlichkeit trägt viele Masken – einige davon im Maßanzug. Wir brauchen starke Allianzen mit Frauenverbänden, Gewerkschaften, Kirchen der Freiheit, migrantischen Communities, Kultur, Wissenschaft, Unternehmen, Sport. Demokratie verteidigt man nicht allein.
Und ja, wir müssen die Kunst schützen. Es gibt keine Demokratie ohne kritische Bilder. Keine Freiheit ohne das Recht, anders schön zu sein. Diese Ausstellung ist also kein Beiwerk, sondern sie ist Demokratiearbeit.
In den letzten Monaten habe ich oft gesagt: Das Haus der queeren Community steht in Flammen. Das ist kein rhetorischer Trick, sondern ein Hilferuf.
Wenn wir nicht gemeinsam löschen – mit Gesetzen, die schützen, mit Schulen, die öffnen, mit Medien, die differenzieren, mit Nachbarschaften, die hinschauen –, dann greift das Feuer über. Erst stirbt ein Wort. Dann ein Gesetz, also ein Recht. Dann ein Mensch. Das ist die Choreografie des Autoritären.
Und ich sage das nicht nur als schwuler Mann, als Aktivist, der ich immer war und immer bleiben werde. Ich sage es auch als Queerbeauftragter dieser Stadt, weil ich jeden Tag erlebe, was passiert, wenn Menschen das Vertrauen verlieren – in Behörden, in Polizei, in Politik, in die Nachbarschaft.
Ich erlebe aber auch das Gegenlicht: Zärtlichkeit, Solidarität, Trost. Menschen, die einander halten. Künstler*innen, die mit ihren Bildern neue Räume öffnen. Diese Ausstellung beweist es: Die Linie zwischen uns muss nicht die Narbe einer Trennung sein. Sie kann die Lebenslinie sein, an der wir einander festhalten.
Wenn „The Line Between Us“ eine Warnung ist, dann ist sie auch eine Einladung. Ziehen wir eine Demokratielinie, die breit genug ist für alle Körper, Lebensentwürfe und Familien. Eine Sprachlinie, die niemanden am Satzende abwirft. Eine Schutzlinie, die wie eine gute Belichtung funktioniert: Sie holt die ins Bild, die zu lange im Dunkeln standen.
Doch wir müssen auch über die Linien sprechen, die wir manchmal selbst in unserer Community ziehen. Zwischen cis schwulen Männern und trans, zwischen Lesben, bi und pan, zwischen inter und nicht-binär, zwischen Weiß und Person of Color, zwischen migriert und hier geboren. Zwischen arm und wohlhabend, Akademiker*in und Schichtarbeit, mit deutschem Pass und ohne, mit Religion und ohne, HIV-positiv und HIV-negativ, jung und alt, Stadt und Land.
Diese Linien machen uns stumpfer und angreifbarer. Rassismus, Transfeindlichkeit, Misogynie, Ableismus und Klassismus dürfen in unseren Reihen keinen Platz haben – nicht einmal „ein bisschen“. Solidarität ist kein Hashtag, sondern tägliche Praxis: Wer Platz hat, rückt. Wer Sichtbarkeit hat, teilt sie. Wer gehört wird, hört zuerst zu.
Wir dürfen keine Linie zwischen uns ziehen. Wir müssen stattdessen eine Linie unter den Hass ziehen. Wir streiten mit Respekt, und wir schützen zuerst die Verwundbarsten. Wenn wir „Community“ sagen, meinen wir alle und ziehen eine Schutzlinie um uns alle herum. Denn erst wenn die Letzte und der Letzte sicher ist, die Letzten sicher sind, sind wir es auch.
Und so bleibt die Antwort auf die Ausgangsfrage: Ja, am Umgang mit queeren Menschen erkennt man den Zustand unserer Demokratie. Und ja – wir müssen und werden diese Demokratie verteidigen.
Hinweis: Die Ausstellung The Line Between Us ist vom 22. August bis 1. November 2025 in der Galerie Nord, Kunstverein Tiergarten, Turmstraße 75, 10551 Berlin, zu sehen.
Mit Arbeiten von: Sitara Ambrosio, Nora Bibel, Lucas Bihler, Marcus Höhn, DeLovie Kwagala, Jo Langenhoff, Mit Euren Spuren-Kollektiv, Jeannette Petri, Minh Duc Pham, Lotte Reimann, Vincent Wechselberger.



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