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DURCH SOLIDARITÄT ZUR FREIHEIT


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Während des Pride Month erschien in der New York Times ein Gastbeitrag des Autors und Kommentators Andrew Sullivan. Schon damals fiel er mir auf – und schon damals nervte er mich. Aber wie das so ist: keine Zeit, keine Ruhe, um mich tiefer damit auseinanderzusetzen. Jetzt bekam ich den Link von einem befreundeten Journalisten noch einmal geschickt (Danke, Stephan!). Und diesmal habe ich mich hingesetzt - und ihm geantwortet.


Sullivan erzählt in seinem Text eine Erfolgsgeschichte – aus seiner Sicht die Erfolgsgeschichte der queeren Bewegung in den USA. Die Ehe für alle? Errungen. Arbeitsrechtlicher Schutz für Lesben, Schwule und Transmenschen? Erkämpft. Für ihn ist das der Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Mission. „Wir haben gewonnen“, lautet sein Resümee. Doch dann, so meint er, sei die Bewegung aus dem liberalen Gleichheitsprojekt in eine radikale „Gender-Revolution“ gekippt. Eine Revolution, die – so seine Darstellung – den traditionellen Geschlechterdualismus auflöse, Sprache umerziehe, Schulen ideologisch umprogrammiere und Minderjährige mit riskanten medizinischen Eingriffen konfrontiere.


Er warnt: Genau diese Entwicklung zerstöre die mehrheitliche Unterstützung in der Bevölkerung, provoziere politischen Backlash und könne am Ende sogar die Rechte von Lesben und Schwulen wieder untergraben. Sein Rezept: weniger Revolution, mehr Reform. Festhalten an dem, was erreicht wurde – und Vorsicht bei grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, besonders wenn es um Kinder geht.


Das ist Sullivans These in Kurzform. Und genau diese Erzählung will ich nicht so stehen lassen. Sie blendet aus, wie verletzlich Rechte sind, wenn man sie nicht aktiv verteidigt. Sie trennt künstlich LGB von T. Und sie verkennt, dass es nicht „zu viel Fortschritt“ ist, der Rechte gefährdet – sondern das Versagen, für alle einzustehen.


Warum sage ich das? Well… Vor zehn Jahren wurde also in den USA die Ehe für alle Realität (und bei uns in Deutschland knapp drei Jahre später). Wenig später sicherte der Oberste Gerichtshof den arbeitsrechtlichen Schutz nicht nur für Schwule und Lesben, sondern auch für trans Menschen. Andrew Sullivan deutet diese Erfolge als Endpunkt einer linearen Erfolgsgeschichte: Wir hätten „gewonnen“. Seine Diagnose lautet, dass die Bewegung seither vom liberalen Gleichheitsprojekt zu einer „Gender-Revolution“ mutiert sei, die den Geschlechterdualismus auflöse, Sprache umforme, Schulen umprogrammiere und Minderjährige mit riskanten medizinischen Eingriffen konfrontiere. Diese Entwicklung, so seine Warnung, gefährde die Mehrheitsunterstützung, erzeuge politischen Backlash und drohe, auch die Errungenschaften von Schwulen und Lesben wieder zu unterminieren. Er plädiert für eine Rückkehr zu „Reform statt Revolution“, für das Festhalten an den bereits erreichten Rechten – und für Zurückhaltung gegenüber grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, vor allem, wenn es um Kinder geht.


Diese Erzählung ist elegant, aber falsch. Rechte in liberalen Demokratien sind keine abgeschlossenen Kapitel im Gesetzbuch, sondern fortlaufend umkämpfte Praktiken. Sie leben in den Strukturen, in denen wir arbeiten, lernen, uns medizinisch versorgen, wohnen. Wer sagt „wir haben gewonnen“, verwechselt den rechtsförmigen Rahmen mit der sozialen Realität seiner Wirksamkeit. Die queere Geschichte lehrt, dass Fortschritte nicht einfach bewahrt werden, weil sie einmal errungen wurden – sie können rasch erodieren, wenn wir sie nicht aktiv verteidigen.


Genau das sehen wir aktuell: Donald Trump hat eine Reihe von Maßnahmen aufgesetzt, die trans Rechte einschränken – von Leitlinien, die „biologische Wahrheit“ administrativ festschreiben sollen, bis hin zur Rücknahme transaffirmativer Praxis in Bundesbehörden und Streitkräften. Zuletzt wurde publik: Die US Air Force verweigert trans Diensttuenden mit 15–18 Dienstjahren den vorzeitigen Ruhestand und entlässt sie ohne Pensionsansprüche – allenfalls mit Abfindung. Das trifft genau jene, die knapp vor der Rentenreife stehen. In Europa organisieren sich sogenannte TERFs – „Trans-Exclusionary Radical Feminists“ – die in Großbritannien, Spanien, Irland und inzwischen auch in Deutschland gezielt Narrative verbreiten, die trans Rechte als Bedrohung für Frauenrechte inszenieren. In Ungarn und Russland wird jede Form queerer Sichtbarkeit kriminalisiert, in Italien blockiert die Regierung Meloni Antidiskriminierungsgesetze und beschneidet Elternrechte gleichgeschlechtlicher Paare. J.K. Rowling hat 2025 einen Fonds aufgelegt, der strategisch Verfahren finanziert, um „sexbasierte Rechte“ gegen trans Inklusion zu behaupten – eine juristische Infrastruktur gegen trans Leben im Alltag. Die Illusion eines „abgeschlossenen Kampfes“ zerbricht überall – wir erleben eine koordinierte, internationale Gegenbewegung.


Sullivans entscheidender Konstruktionsfehler ist die Trennung von „LGB“ und „T“ – als handle es sich um zwei völlig unterschiedliche Projekte, von denen eines abgeschlossen sei und das andere eine radikale Entgleisung. Historisch ist diese Trennung künstlich. Magnus Hirschfeld – Arzt, Sexualwissenschaftler, Aktivist – wusste schon um 1900, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Varianz verschiedene Dimensionen derselben Realität sind. Sein Institut für Sexualwissenschaft kämpfte für Homosexuelle, trans und intersexuelle Menschen gemeinsam. Hirschfeld verstand, dass Spaltung politisch naiv ist: Die Gegner*innen der Freiheit unterscheiden nicht zwischen „guten“ Homosexuellen und „zu radikalen“ Transpersonen.


Und hier muss ich deutlich werden: Ein Teil unserer eigenen Community – vor allem Teile von L und G – hat sich nach der Eheöffnung abgewandt. Satt vom Sieg, satt vom Applaus, satt vom Gefühl, endlich angekommen zu sein. Sie sitzen nun wie zufriedene Gäste an einer langen Festtafel, deren reich gedeckter Kuchen nicht allein gebacken wurde. Der Teig wurde geknetet von trans Menschen, nichtbinären, inter*, asexuellen, von Migrant*innen, von Schwarzen und PoC-Queers, von Menschen mit HIV. Viele haben den Backofen mit ihren Körpern gegen Feuer geschützt. Und nun stehen einige auf, halten die Teller fest und sagen: „Das ist unser Stück. Eures kommt vielleicht später.“ Dieses Verhalten ist nicht nur Verrat an der Solidarität, die uns stark gemacht hat. Es ist moralischer Bankrott – und es spielt exakt jenen in die Hände, die unsere gesamte Bäckerei schließen wollen.


Es ist berechtigt, über die medizinische Begleitung von Jugendlichen zu sprechen – aber Sorgfalt ist nicht gleichbedeutend mit Verweigerung. Trans Jugendliche gehören zu den verletzlichsten Gruppen überhaupt. Ihre erhöhten Raten von Depression, Selbstverletzung und Suizidversuchen sind nicht das Resultat einer „Gender-Ideologie“, sondern einer Gesellschaft, die ihnen Tag für Tag signalisiert: Du bist nicht echt, du bist nicht willkommen. Und es sind nicht nur Versuche – manche dieser Kinder nehmen sich das Leben. Jeder dieser Tode ist eine Anklage gegen ein System, das ihnen jede Hoffnung auf ein authentisches, lebenswertes Dasein verweigert. Wer als schwuler Junge oder lesbisches Mädchen in einer feindlichen Welt aufgewachsen ist, weiß, wie sich Unsichtbarkeit anfühlt. Sullivan fordert, Kinder „in Ruhe zu lassen“ – tatsächlich hieße das, sie in ihrem Schmerz und ihrer Dysphorie alleine zu lassen. Ich habe zwar nicht studiert, aber weil ich mal Arzt werden wollte, habe ich mir den ethischen Maßstab „Primum non nocere“, also "zuerst nicht schaden", gemerkt - und der gilt in beide Richtungen: Auch Nicht-Handeln kann tödlich sein.


Sullivan verweist auf fehlende Langzeitstudien. Ja, wir brauchen mehr Evidenz – aber dieser Mangel ist kein Grund, das bestehende Fachwissen zu ignorieren. Leitlinien internationaler Fachgesellschaften wie WPATH, der Endocrine Society oder der American Academy of Pediatrics empfehlen differenzierte, gestufte Verfahren: psychologische Begleitung, soziale Transition, reversible Pubertätsblocker, in ausgewählten Fällen hormonelle Therapie. Diese Verfahren beinhalten Evaluation, Mitwirkung der Sorgeberechtigten, multidisziplinäre Abklärung – und Exit-Optionen ohne Stigmatisierung. Das ist keine „blinde Affirmation“, sondern klinische Rationalität – genau jene Verbindung von Empirie und Ethik, auf die schon die frühe Sexualwissenschaft setzte.


Der Rückgriff auf das Mehrheitsargument – die Sorge, Zustimmung könne schwinden – ist ein gefährlicher Kompass. Jede wesentliche queere Errungenschaft ist gegen die damalige Mehrheitsmeinung erkämpft worden: die Entkriminalisierung, die Antidiskriminierungsgesetze, die Ehe. Hätten wir uns damals an der „gesellschaftlichen Mitte“ ausgerichtet, wir hätten noch immer § 175, noch immer den Zwang zur Unsichtbarkeit. Fortschritt entsteht nicht, indem wir unsere radikalsten und verletzlichsten Mitglieder opfern, um den Anschein von Respektabilität zu wahren. Fortschritt entsteht, wenn wir für alle kämpfen – auch dann, wenn es unbequem ist.


Der Appell könnte einfacher nicht sein: Wer an der Kuchentheke der Freiheit steht, muss die Hand ausstrecken, nicht den Teller wegziehen. Die Gegner*innen warten nur darauf, dass wir uns spalten – und sie arbeiten längst daran. Die Freiheit ist unteilbar. Sie gilt allen oder niemandem. Hirschfeld würde uns heute ins Stammbuch schreiben, was er vor einem Jahrhundert sagte: „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.“ Und ich würde respektvoll hinzufügen: „…durch Solidarität zur Freiheit.“ Alles andere ist der Anfang vom Ende.

 
 
 

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