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SIE HÖREN: ANALVERKEHR!


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Der Vorwurf ist nicht neu, aber er hat eine neue Wucht: Queere Menschen seien zu sichtbar geworden. Ihre Forderungen zu laut, ihre Existenz zu präsent. Was dabei mitschwingt, ist gefährlich – und brandaktuell: die Behauptung, dass Vielfalt nicht stärken, sondern spalten würde. Dass queere Identitäten kein Teil des öffentlichen Raums sein sollen, sondern sich bitte wieder in Privaträume zurückziehen mögen.


Ein Vertreter dieser These ist Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Er beklagte kürzlich in einem Gastbeitrag auf einer rechtsalternativen Plattform eine „aggressive Forderung nach permanenter Sichtbarkeit“, warnt vor einem „Kniefall“ vor der Regenbogenflagge und spricht davon, dass queere Menschen „anderen ihre sexuelle Orientierung aufdrängen“ würden.


Das ist keine Sorge um Neutralität. Das ist eine Umdeutung von Realität – und ein beunruhigender Angriff auf gelebte Vielfalt.


Gerade sorgen sich so viele um die ach so viel zitierte Neutralität. Oft wird behauptet, das Hissen der Regenbogenflagge an staatlichen Gebäuden verletze die gebotene staatliche Neutralität. Doch dieser Vorwurf verkennt, was Neutralität in einer Demokratie bedeutet. Der Staat ist nicht neutral, wenn er keine Haltung zeigt – er ist neutral, wenn er alle Grundrechte gleichermaßen garantiert.


Und das bedeutet: Wer sichtbar Diskriminierte schützt, handelt nicht parteiisch, sondern verfassungstreu. Die Regenbogenflagge ist kein Bekenntnis zu einer Ideologie – sie ist ein Zeichen, dass dieser Staat seine Schutzpflicht ernst nimmt. Wenn queere Menschen strukturell gefährdet sind, dann ist es nicht neutral, sich wegzudrehen – es ist fahrlässig. Sichtbare Solidarität ist keine Einseitigkeit, sondern Ausdruck dessen, was das Grundgesetz verlangt: Gleichheit, Würde, Freiheit – für alle.


Auch der Vorwurf des Aufdrängens ist wieder in aller Munde. Doch wer „drängt“ hier eigentlich wem etwas auf? Die Logik ist ebenso durchschaubar wie absurd: Wenn queere Menschen von sich erzählen, sollen sie angeblich „privates ins Öffentliche zerren“. Wenn aber ein Kollege im Büro erzählt, dass seine Frau krank ist, oder wenn eine Frau ein Bild ihres Ehemannes auf dem Schreibtisch stehen hat, ist das kein Politikum. Sondern: Alltag. Queere Sichtbarkeit wird problematisiert – nicht, weil sie laut ist, sondern weil sie vom Heteronormativen abweicht.


Und oft genug passiert dann Folgendes: Wenn ein schwuler Mann sagt, er war mit seinem Freund essen, hören manche nicht „Abendessen“. Sie hören: „Sex“. Sie hören: „Analverkehr“. Das ist aber kein Wahrnehmen der Worte, die der schwule Mann gesagt hat. Das ist ein Spiegelbild der Vorurteile gegenüber Schwulen. Und somit nicht das Problem der queeren Community. Sondern das Problem all derer, die diese Bilder im Kopf haben.

Sichtbarkeit ist keine Ideologie – sie ist Überleben. Was als Überrepräsentation skandalisiert wird, ist in Wahrheit ein Akt der Notwendigkeit. Denn Unsichtbarkeit ist keine neutrale Alternative – sie ist ein Risiko. Unsichtbarkeit bedeutet, dass queere Jugendliche in ländlichen Regionen sich für „falsch“ halten und sich das Leben nehmen. Unsichtbarkeit bedeutet, dass trans Frauen auf der Straße mehrfach attackiert werden – und man ihnen aber unterstellt, sie hätten provoziert. Unsichtbarkeit bedeutet, dass queere Senior*innen heute in Pflegeeinrichtungen wieder verstummen, aus Angst vor Ausgrenzung.

Sichtbarkeit bedeutet: Schutz. Sichtbarkeit bedeutet: Würde. Sichtbarkeit bedeutet: Ich darf sein, so wie ich bin.


Wenn staatliche Gebäude Regenbogenflaggen hissen, ist das kein Kniefall vor dem Zeitgeist – sondern ein Aufstehen für das Grundgesetz. Denn diese Flagge steht nicht für eine Mode. Sie steht für ein Versprechen: Dass dieser Staat alle Menschen schützen muss. Nicht nur die Mehrheit, auch die Minderheit.


Das tut aber unser Staat, unsere Bundesrepublik Deutschland immer noch nicht. Schwarz-Rot-Gold soll angeblich für alle gelten und alle inkludieren. Das kann nur jemand behaupten, der ein Leben lang nicht die Erfahrung machen musste, ausgeschlossen zu werden.


Die Regenbogenfahne sagt auch: Die Polizei ist für alle da. Die Verwaltung ist für alle da. Die Demokratie ist für alle da. Und deshalb ist es kein Zeichen von Schwäche, wenn Institutionen Flagge zeigen. Es ist ein Zeichen von Verfassungsstärke.


Stärke und Gerechtigkeit zeigt sich im Schutz der Schwachen – nicht durch Demonstration von Macht. Wer ruft, der Staat dürfe keine Gruppen bevorzugen, der vergisst: Es geht nicht um Bevorzugung, sondern um Gerechtigkeit. Ein gerechter Staat ignoriert keine Diskriminierung. Ein gerechter Staat gleicht aus. Ein gerechter Staat erkennt: Wer jahrzehntelang strukturell benachteiligt wurde, braucht mehr als schöne Worte. Er braucht Räume, Chancen, Respekt – und Schutz.


Was hier als „Überbetonung“ queerer Anliegen denunziert wird, ist in Wahrheit: Reparaturarbeit an jahrzehntelangem Ausschluss. Die alte Behauptung, man behandle doch „alle gleich“, klingt zunächst gerecht – ist aber in Wirklichkeit bequem. Denn Gleichbehandlung ist nicht erreicht, wenn alle die gleichen Regeln bekommen. Gleichbehandlung ist erreicht, wenn alle mit den gleichen Chancen starten.

Wer einem Kind mit Steinen im Rucksack sagt: „Lauf einfach wie die anderen“, der hilft nicht. Der versagt. Gerecht ist nicht, alle mit dem gleichen Maß zu messen. Gerecht ist, die Unterschiede zu erkennen – und auszugleichen.


Queere Menschen sind weder eine Mode, noch ein Trend. Sie sind nicht Ergebnis von „Genderwahn“ oder „Links-Ideologie“. Sie sind: da. Und sie waren es schon immer.

Sie waren da in der Weimarer Republik, als zum Beispiel Berlin queer war – und frei. Sie waren da unter den Nazis – auf Rosa Listen, in Konzentrationslagern. Sie waren da in der Bundesrepublik – immer noch kriminalisiert unter §175. Sie waren da in der DDR – überwacht, pathologisiert. Sie waren da in den 1980ern, als AIDS Leben vernichtete – und die Gesellschaft wegsah und die Politik Schwule in Lagern stecken wollte. Und sie sind heute da. In den Familien. In den Unternehmen. In den Schulen. In der Verwaltung, in der Polizei, in der Politik.


Queere Realität ist keine Ideologie. Sie ist gelebte Geschichte. Und Gegenwart. Und Zukunft. Wer also queere Sichtbarkeit fürchtet, hat Demokratie nicht verstanden. Denn es ist kein Zeichen von Stärke, Diversität auszublenden. Es ist kein Zeichen von Miteinander, die Existenz anderer Lebensrealitäten als störend zu empfinden. Es ist kein Zeichen von Ordnung, wenn man glaubt, Vielfalt gefährde den gesellschaftlichen Frieden.

Stärke in einer Demokratie heißt nicht: alle machen das Gleiche. Stärke heißt: Unterschiedlichkeit aushalten. Und garantieren.


Queere Menschen wollen nicht mehr. Wir wollen endlich gleich sein. Was queere Menschen fordern, ist kein „Mehr“. Es ist: Gleichheit. Wir fordern das Recht, zu lieben und zu sein, ohne Angst. Das Recht, sichtbar zu sein, ohne Scham. Das Recht, nicht toleriert – sondern anerkannt und respektiert zu werden.


Und wenn das als „zu viel“ erscheint, sollte die Frage nicht lauten: Warum sind die so laut? Sondern: Warum ist die Stille der anderen so laut?


Manche mögen queerer Sichtbarkeit müde sein. Sie mögen sagen: Es reicht jetzt. Man hört euch doch schon. Aber solange queerfeindliche Gewalt Alltag ist, reicht es eben nicht. Solange Kinder glauben, sie seien allein, reicht es nicht. Solange Menschen in Angst leben, weil sie lieben, reicht es nicht. Sichtbarkeit ist keine Provokation. Sie ist Überleben. Sie ist Schutz. Sie ist Freiheit.


Queere Menschen sind keine „aggressive Minderheit“. Wir sind Bürger*innen dieses Landes. Wie alle anderen auch. Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Und wir bleiben es. Ob es manchen passt oder nicht.

 
 
 

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