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Warum es heute die Progressive Pride Flag braucht

Ich finde es erstaunlich, wie leidenschaftlich über eine Flagge gestritten werden kann. Eine Flagge, die mehr ist als Stoff und Farbe. Eine Flagge, die für viele von uns in der queeren Community zum Symbol unserer Identität, unseres Kampfes, unserer Hoffnungen und Verluste geworden ist. Und doch: Gerade innerhalb unserer eigenen Community entzündet sich an ihr eine Debatte, die tief blicken lässt – auf Machtverhältnisse, auf historische Erzählungen, auf blinde Flecken in unserer Solidarität.

Die Diskussion um die klassische Regenbogenflagge und die „Progressive Pride Flag“ ist kein Streit um Ästhetik. Sie ist Ausdruck eines grundlegenden Konflikts darüber, wessen Geschichte sichtbar ist, wer dazugehört und wer sich immer wieder selbst einfordern muss, um gesehen zu werden.

Die klassische, sechsstreifige Flagge von Gilbert Baker war ein revolutionäres Symbol. Als er sie entwarf, hatte sein Original sogar acht Farben - bis sie später verändert wurde.

Seine sechsstreifige Flagge wehte bei ersten Demos in San Francisco, sie flatterte bei Mahnwachen für AIDS-Tote, sie hing über Särgen und tanzte bei CSDs durch Städte, in denen wir lange nur im Verborgenen leben durften. Auch für mich persönlich ist sie von unschätzbarem Wert. Ich habe unter ihr gestanden, geweint, geliebt, mich zum ersten Mal selbst erkannt. Sie ist Teil meiner Biografie.



Progressive Pride Flagge


Und dennoch: Die Welt hat sich weitergedreht. Und wir mit ihr.

Die Progressive Pride Flag ist nicht gegen die alte Fahne gerichtet. Sie erweitert sie. Sie erinnert uns daran, dass nicht alle queeren Menschen in den letzten Jahrzehnten gleich gesehen, gehört und geschützt wurden. Sie fügt Braun und Schwarz hinzu, um auf die Kämpfe von BIPoC-Queers aufmerksam zu machen. Sie integriert Rosa, Hellblau und Weiß – als Zeichen für unsere transgeschwisterlichen Realitäten. Sie sagt: Wir sind mehr. Wir sind nicht gleich. Aber wir stehen füreinander ein.

Was daran stört? Vielleicht genau das: dass sie neue Perspektiven aufmacht. Dass sie unbequeme Fragen stellt. Dass sie nicht nur feiert, sondern mahnt. Und dass sie denen eine Stimme gibt, die allzu oft auch innerhalb unserer Community überhört wurden.

Wenn also heute, auch in einer Regenbogenhauptstadt wie Berlin, gezögert wird, die Progressive Pride Flag zu zeigen – dann geht es nicht um die falsche Flagge, sondern um ein falsches Verständnis von Solidarität. Eine Solidarität, die sich nur auf jene bezieht, die einem selbst ähnlich sind, ist keine.

Die Frage ist nicht: Welche Flagge ist schöner?

Sondern: Welche Realität wollen wir sichtbar machen?

Gerade ältere, mehrheitlich weiße Queers sagen oft, die klassische Flagge habe „alle inkludiert“. Das mag aus ihrer Perspektive stimmen. Doch was ist mit denen, die sich in ihr nie wirklich wiederfanden? Die auf CSDs angefeindet wurden, weil sie Schwarz oder trans oder beides waren? Die bis heute um Sichtbarkeit, Schutz und Anerkennung kämpfen müssen – auch in unseren Reihen?

Eine Community, die sich spaltet, sobald Sichtbarkeit neu gedacht wird, verkennt den Kern dessen, was queere Bewegungen groß gemacht hat: die radikale Bereitschaft, voneinander zu lernen, einander Platz zu machen, und unsere eigene Geschichte immer wieder zu hinterfragen.

Und vielleicht hilft uns hier ein Bild, das wir alle seit Jahrzehnten besingen: der Regenbogen, „über den Wolken“, der uns Freiheit und Hoffnung verspricht. In der Natur ist ein Regenbogen nie auf sechs Farben beschränkt. Er ist ein Spektrum. Ein leuchtender Bogen aus unzähligen Farbabstufungen, aus Übergängen, aus Vielfalt. Genau das ist seine Schönheit. Wer ihn künstlich begrenzt, verfehlt sein Wesen.

Ich plädiere mit allem, was ich bin, für die Sichtbarkeit und Inklusion aller, die sie einfordern. Nicht als Geste. Sondern als Pflicht. Als queerer Mensch. Als politischer Mensch. Als jemand, der an der alten Flagge sein Herz verloren hat – aber an der neuen unsere gemeinsame Zukunft erkennt.

Denn unsere Flagge darf nie ein Symbol des Ausschlusses werden. Sie muss immer ein Versprechen sein: Du gehörst dazu. Auch du. Vor allem du!

 
 
 

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