Verrat an die community
- pantisano
- 20. Juli
- 7 Min. Lesezeit

Wie gerne erinnere ich mich noch an die Zeiten meines ersten CSD in Berlin. Im Kostüm. Tanzend. Lächelnd. Feiernd. Diese Erinnerungen an 2001 scheinen so weit weg zu sein. Wie ein Traum. Oder Alptraum.
Ich sage es so, wie ich es sehe: Das Haus der queeren Community steht in Flammen. Nicht vielleicht. Nicht irgendwo. Es brennt. Jetzt. Weltweit. Und während queere Menschen hier gedemütigt und zusammenschlagen werden, während queere Menschen in anderen Teilen der Welt verhaftet, gefoltert, ermordet werden, während in Demokratien plötzlich Recht und Gesetz plötzlich gestrichen werden, Räume geschlossen, Existenzen entwürdigt werden – fährt am nächsten Wochenende in Berlin wieder ein Werbetruck nach dem anderen durch die Straßen. Unter bunten Bannern. Mit Regenbogenlogos. Und mit Unternehmen, die sich dort, wo queeres Leben am meisten unter Druck steht, abwenden oder wegducken.
2025 ist kein Jahr der Sichtbarkeit. Es ist ein Jahr der Angriffe. Eine konzertierte, internationale Rücknahme von Errungenschaften. Eine neue globale Ära der Queerfeindlichkeit. USA. Uganda. Ungarn. Russland. Italien. Und ja – auch Deutschland.
Die Demokratie bricht ihre Versprechen zuerst dort, wo sie glaubt, es könne sich keiner mehr wehren - bei uns.
In dieser Realität müssen wir fragen: Wer steht wirklich zu uns – und wer steht nur neben uns, solange es nützt? Wer feiert mit uns, solange es bequem ist – und wer schweigt, sobald es brennt?
Denn während wir von Konzernen sprechen, müssen wir zugleich von jenen sprechen, die bundesweit unsere CSDs organisieren – Menschen, die seit Jahren Sichtbarkeit, Schutzräume, Protest ermöglichen. Sie stehen heute vor einer der schwersten Entscheidungen, die eine emanzipatorische Bewegung treffen kann. Denn was tun, wenn die Wahl lautet: Entweder ein politisch kompromittierter CSD – oder gar keiner?
Ohne Sponsoren kein Strom, keine Technik, keine Genehmigungen, keine Absperrungen, keine Versicherungen. Ohne Unternehmen keine Kampagnen, keine Bühnen, keine Reichweite. Die öffentliche Hand zieht sich zurück – und die Community wird gezwungen, sich selbst zu finanzieren. In einem System, das wirtschaftlichen Einfluss höher bewertet als moralische Haltung.
Doch mit diesem Geld kommt auch die Zumutung: Logos, die unsere Werte simulieren, aber nicht leben.
Und dieses Jahr fällt noch etwas auf: Viele Unternehmen, die in den letzten Jahren mit großem Tamtam auf den CSDs präsent waren, fehlen plötzlich. Sie meiden die Sichtbarkeit. Vielleicht aus Angst vor rechter Hetze. Vielleicht aus strategischem Kalkül. Vielleicht sogar ehrlich, weil sie wissen, dass ihr Auftreten nicht mehr glaubwürdig wäre.
Doch was auch immer der Grund ist: Es zeigt, dass die Maske gefallen ist. Dass Pride für viele nie mehr als Imagepflege war – und dass sie jetzt, wo es unbequem wird, lieber gar nicht mehr erscheinen, als Farbe zu bekennen. Kampagnen, die uns feiern, aber nicht schützen. Marketing, das mit unserer Geschichte spielt, ohne ihre Last zu tragen. Es ist ein Handel, bei dem viele nicht mehr wissen, was eigentlich verkauft wird – und wer am Ende den Preis bezahlt.
Dieses Dilemma ist real. Und es ist brutal. Es verdient keine schnellen Urteile – aber es stellt eine grundsätzliche Frage an uns alle: Was riskieren wir, wenn wir uns weiter anpassen? Und was verlieren wir, wenn wir endlich wieder Haltung zeigen? Denn eines ist klar: Die Wahrheit ist nicht käuflich. Nicht in Uganda. Nicht in Russland. Nicht in Berlin.
Und deshalb müssen wir genau hinsehen: Manche Unternehmen, die unsere Farben tragen, tun das nicht aus Verbundenheit – sondern aus Marketingstrategie. Sie verkaufen uns Werte, die sie selbst nicht leben. Sie spielen Überzeugung – und meinen Reichweite. Sie behaupten Haltung – und meinen Marktanteile. Und was am Ende bleibt, ist Verrat.
Was aber, wenn wir es einfach anders machen würden? Was, wenn wir sagen würden: Keine Trucks. Keine Logos. Keine glitzernden Partnerschaften. Kein Sounddesign. Kein Bühnenprogramm. Kein Corporate Pride.
Stellen wir uns einen CSD vor – ohne Markentrucks, ohne Hochglanz-Allyship, ohne abgestimmte Pressestatements. Nur noch der Klang unserer verzweifelten, wütenden, verletzten, widerständigen Stimmen. Keine Sponsoren. Kein Marketing. Nur uns.
Vielleicht wäre das kleiner. Vielleicht wäre das leiser. Vielleicht wäre es sogar schmerzhafter. Aber vielleicht – wäre es auch der ehrlichste CSD seit langem.
Vielleicht müssten wir uns dabei zum ersten Mal wieder fragen: Wer sind wir – ohne sie? Was bleibt von unserer Bewegung, wenn wir sie nicht mehr durch Sponsoren beschreiben, sondern durch unser eigenes Rufen, unser eigenes Erinnern, unser eigenes Stehen?
Ein CSD, der keine Show mehr ist. Sondern ein Aufstand. Kein Produkt, sondern eine Botschaft. Keine Parade der Logos – sondern ein Schwur.
Nehmen wir Duolingo, der diesjährige Hauptsponsor des Berliner CSD. Duolingo inszeniert sich im Westen als leuchtender Ally. In ihrer App gibt das Unternehmen gleichgeschlechtlichen Realitäten eine Sprache, im Pride-Month kleidet es sich in Regenbogenfarben – alles da. Doch im Russischen endet diese Solidarität. Auf Aufforderung der Zensurbehörde löscht Duolingo systematisch queere Inhalte aus seiner App – etwa Sätze wie „Ben und Peter lieben sich“ oder „Clara traf ihre Ehefrau Maria in einer lesbischen Bar“.
Die offizielle Begründung klingt weich: „Leider verbieten uns das lokale Gesetze.“ Das mag sein. Aber wissenschaftlich betrachtet ist das gezielte strategische Compliance, ein Klassiker in der globalen Unternehmensethik, wo lokaler Profit dem universellen Wertbezug vorgezogen wird. Duolingo handelt opportunistisch: Sichtbarkeit, solange sie sicher ist – Rückzug, wenn es riskant wird. Und dabei schweigt Duolingo im Westen zu diesem Rückzug. Der Name Duolingo sagt alles: duo lingo – Zwei Standards. Zwei Wahrheiten. Eine für Parade, eine für Zensur. Oder gar Doppelzüngigkeit. Klar ist jedenfalls: Weder spricht diese mit unseren Stimmen, noch verteidigt sie unsere Rechte.
Und was ist mit Mastercard? „Priceless“ – unbezahlbar. So lautet der Slogan, mit dem Mastercard seit Jahren seine globale Marketingkampagne betreibt. Beim Berliner CSD wird daraus eine Inszenierung von Verbundenheit. Doch was als Wert kommuniziert wird, ist in Wahrheit eine performative Simulation von Verantwortung, die systematisch aufhört, wo Risiko beginnt.
In Ländern mit repressiver queerfeindlicher Politik bleibt Mastercard auffällig still. Das Unternehmen bleibt dort neutral, wo Neutralität die Seite der Unterdrückung ist. Was hier geschieht, ist ein typisches Beispiel für Regenbogen-Kapitalismus: queere Identitäten werden als Markenfläche benutzt, nicht als moralisches Anliegen. Mastercard verkauft das Gefühl von Unterstützung – während es in Wirklichkeit Wertehandel mit doppeltem Boden betreibt. Dass gerade dieses Unternehmen beim CSD mit „Priceless“ wirbt, ist bittere Ironie, wenn man bedenkt, dass queeres Leben vielerorts mit dem Leben selbst bezahlt wird.
Und ja, bei der Telekom werde ich echt wütend. Die Deutsche Telekom gilt als Vorzeigekonzern für Corporate Social Responsibility. Doch in den USA ziehen sich ihre Tochterunternehmen aktuell systematisch aus Gleichstellungsprogrammen zurück. Keine Diversity-Schulungen mehr, keine klaren Antidiskriminierungsrichtlinien, keine aktive queere Sichtbarkeit im Unternehmen. Aber am Berliner CSD sind sie wieder vorne mit dabei.
Dieses Verhalten verweist auf ein grundlegendes Problem: soziale Verantwortung wird zur regionalen PR-Maßnahme degradiert, anstatt global ernst genommen zu werden. Die Telekom ist damit kein Sonderfall, sondern Symptom einer internationalen Praxis: Menschenrechte werden lokal gehandhabt – statt universal verteidigt.
Ein Unternehmen, das sich auf technologisches Netzwerken spezialisiert hat, trennt hier nicht nur Datenverbindungen – sondern Menschen von ihrer Sicherheit. Es zieht sich zurück, sobald queere Menschen politisch zu viel, zu belastend werden. Das ist nicht nur enttäuschend – es ist strukturell gefährlich. Und beschämend.
Berlin. Das ist die Wiege, die Verpflichtung. Hier entstand die erste weltweite queere Emanzipationsbewegung. Hier wurde mit Magnus Hirschfeld 1897 die erste Organisation zur Entkriminalisierung homosexuellen Lebens gegründet. Hier stand sein Institut für Sexualwissenschaft – bis es von den Nazis geplündert und zerstört wurde. Hier wurden die Rosa Listen geführt. Hier wurde queeres Leben kategorisiert, registriert, verfolgt – und vernichtet.
Und hier wurde nach dem Krieg viel zu lange weitergeschwiegen. Paragraph 175 blieb bestehen. Entschädigung wurde jahrzehntelang verweigert. Würde wurde erneut verweigert. Wer in Berlin über Pride spricht, spricht immer auch über eine Schuldgeschichte. Und über Verantwortung.
Denn Berlin ist nicht nur Symbol. Es ist Verstärker. Wenn hier eine klare Haltung sichtbar wird, wird sie in die Welt getragen. Wenn hier nichts gesagt wird – dann bleibt auch andernorts das Schweigen.
Deshalb ist Berlin nun Prüfstein. Für das, was möglich ist. Für das, was noch verteidigt werden muss. Für das, was nie wieder geschehen darf. Und für das, wie wir "Nie wieder still" wirklich verstehen.
Und Stonewall? Stonewall war eine Entladung. Von Demütigung. Von Angst. Von Schmerz. Stonewall war eine Revolution. In jener Nacht im Juni 1969 begannen queere Menschen – trans Frauen, Lesben, Schwule – mit bloßen Händen Steine gegen die Polizei zu schleudern, weil ihnen diese Männer in Uniformen immer wieder Sicherheit, Intimität, Leben genommen hatte. Sie verteidigten damit ihre Körper. Ihre Liebe. Ihre Würde.
Stonewall war Selbstverteidigung. Ein Aufstand, der notwendig wurde, weil jede Menschlichkeit versagt hatte. Ein Moment, in dem Reden, in dem Sprache nicht mehr ausreichte.
Und heute? Heute sind wir so weit, dass manche meinen, wir hätten verlernt, die Steine der Mahnung aus der New Yorker Christopher Street im Blick zu halten. Weil die Mauern unserer "Stonewalls" neu verputzt wurden. Mit Logos. Mit Werbesprüchen. Mit Imagepflege.
Das Haus der queeren Community steht in Flammen. Und während es brennt, verteilen Konzerne bittere Bonbons in farbiger Folie - und mit eigenem Logoaufdruck. Klar, was sonst? Aber wir wissen: Die Wahrheit braucht keine Werbung. Sie braucht Mut. Die Community braucht keine Logos. Sie braucht Loyalität. Pride braucht keine Sponsoren. Es braucht Rückgrat.
Wir können verhandeln, wie wir feiern. Wir können verhandeln, wie laut wir sind. Wir können verhandeln, ob wir tanzen oder schreien. Aber wir dürfen nie verhandeln, wer wir sind.
Wir sollten jedenfalls nie käuflich sein. Denn wir sind Hirschfeld. Wir sind Stonewall. Wir sind die, die sich erinnern und ein Erbe zu verteidigen haben. Die, die nicht mehr schweigen, weil man gerade versucht der queeren Jugend ihre Zukunft zu rauben.
Nach dem CSD ist vor dem CSD - sofern wir nächstes Jahr wieder einen CSD haben dürfen. So schnell wie gerade unsere Errungenschaften Stück für Stück, Recht für Recht niedergerissen werden, weiß man ja nie! Aber gut, wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben: Wenn sich also die Berliner Community mit Blick auf 2026 anders, mutiger entscheiden sollte, wäre das kein Rückschritt – sondern ein Schritt zurück zu uns selbst. Und ein Schritt weg von falschen Freunden.



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