HAPPY PRIDE, BERLIN!
- pantisano
- 26. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 7. Aug.

Ich schreibe gerade einen Text nach dem anderen. Nicht, weil ich besonders viel Zeit hätte. Sondern weil ich es muss. Weil ich nachts tatsächlich wach werde – nicht vor Sorge, sondern vor Wut. Weil diese Gedanken raus müssen. Weil ich nicht mehr zusehen will, wie alles, was wir uns als queere Community hart erkämpft haben, wieder angezündet wird – nicht nur in Parlamenten, sondern auch auf offener Straße, im Internet, in Wohnzimmern. Ich schreibe, weil das, was uns bedroht, jeden Tag gefährlicher wird. Und weil das, was uns schützt, nicht nur Gesetze sind – sondern Worte, Sichtbarkeit, Haltung.
„Ich habe ja nichts gegen euch – aber müsst ihr euch wirklich immer so zeigen?“ Das ist kein Satz, der mir aus rechten Telegram-Gruppen entgegenschlägt. Sondern aus der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Sogar von manchen Menschen mit Pride-Filter auf Instagram, mit Regenbogenaufklebern auf dem Laptop, mit guten Absichten und besten Verbindungen. Was in diesem Satz mitschwingt, ist keine offene Ablehnung. Es ist ein Unbehagen, das nicht als solches ausgesprochen wird. Es ist Irritation darüber, dass queere Menschen heute immer noch nicht Ruhe geben. Ganz nach dem Motto „Ihr dürft endlich heiraten. Was wollt ihr denn noch?“
Es ist die Reaktion jener, die gelernt haben, Vielfalt gut zu finden – solange sie nicht irritiert, nicht fordert, nicht aneckt. Ein reflexartiges Zusammenzucken, wenn queere Menschen nicht mehr fragen, ob sie dazugehören dürfen, sondern schlicht davon ausgehen, dass sie nie hätten ausgeschlossen werden dürfen.
Dabei sagt kaum jemand: „Geht weg.“ Aber was gesagt wird – direkt oder unterschwellig – ist: „Bleibt da, wo ihr und nicht auf die Nerven geht. Sprecht nicht zu laut, liebt nicht zu offen, stellt keine Forderungen, die unsere gewohnte Ordnung durcheinanderbringen. Ihr dürft da sein – solange ihr uns nicht zwingt, etwas zu verändern.“ Das ist keine bewusste Feindlichkeit. Aber mit Akzeptanz hat das auch nichts zu tun. Es ist ein höfliches Abdrängen, ein leiser Rückzugsbefehl, der sich in Nettigkeiten tarnt. Und genau das ist gefährlich. Denn es ist nicht die offene Gewalt, die uns zuerst verletzt. Es ist das gut gemeinte Wegsehen. Die höfliche Erschöpfung. Das freundliche Desinteresse, das genau in dem Moment einsetzt, in dem unsere Realität unbequem wird – zu komplex, zu emotional, zu fordernd.
Die Wahrheit ist: Wer Lesben nicht sieht, schützt sie nicht, wenn sie auf der Straße angepöbelt werden. Wer Schwule ignoriert, meldet den Angriff nicht, wenn er ihn mitbekommt. Wer trans Menschen aus Gesprächen heraushält, steht nicht vor ihnen, wenn sie bedroht werden. Und wer queere Menschen nur dann mitdenkt, wenn es um Diversity-Statements geht, lässt sie genau dann allein, wenn es konkret wird. Wer uns nicht sieht, schützt uns nicht – und schützt damit auch nicht das Versprechen dieser Gesellschaft: dass alle Menschen in Freiheit, Würde und Sicherheit leben dürfen. Allein in Berlin leben über eine Million queere Menschen – eine Million Existenzen, deren Sichtbarkeit keine Frage des Geschmacks ist, sondern eine demokratische Notwendigkeit. Die Vielfalt dieser Stadt ist nicht Deko. Sie gehört zu Berlin. Und sie gehört – wie Freiheit und Würde – zu dem, was unser Grundgesetz verspricht.
Was viele als „zu viel“ empfinden – unsere Präsenz in Sprache, Medien, Bildung, Politik – ist für uns oft gerade das Minimum, um überhaupt existieren zu dürfen. Sichtbarkeit ist keine Geste der Selbstverliebtheit. Sie ist eine Reparaturmaßnahme. Lasst das auf Euch einwirken. Ja, sie ist eine Reparaturmaßnahme.
Sie ist die Antwort auf jahrhundertelanges Schweigen, auf Löschung, auf systematisches Unsichtbarmachen – in Geschichtsbüchern, Klassenzimmern, Archiven, Familienerzählungen. Heute leben wir in einem Land mit Gesetzen gegen Diskriminierung und mit einer rechtlich anerkannten Ehe für alle. Und trotzdem bleibt unsere Gleichstellung fragil – weil sie sich strukturell nie wirklich tief verankert hat. Noch immer steht nicht im Grundgesetz, dass niemand aufgrund seiner sexuellen Identität benachteiligt werden darf. Obwohl die Nazis auch uns in Konzentrationslagern vernichtet haben. Noch immer müssen lesbische Mütter ihre Kinder aufwändig adoptieren, wenn sie nicht leiblich verwandt sind – während heterosexuelle Väter automatisch als rechtlich bindend gelten.
Queere Familien bekommen immer noch nicht rechtliche Absicherung, die sie brauchen um entspannt Familie sein zu können. Denn Kinder aus einer lesbischen Beziehung, oder noch genauer, Kinder aller queeren Beziehungen müssen die rechtliche Absicherung erhalten, die ihnen zusteht. Und ja, Transeltern müssen mit ihrem Geschlecht und ihrem selbst gewählten Namen in der Geburtsurkunde aufgeführt werden, Mehrelternschaften müssen allen beteiligten Eltern die Garantie geben, ihre Kinder gleichberechtigt sehen und großziehen zu können. Das ist euch zu kleinteilig? Nun, für uns heißt das Demokratie.
Noch immer ist der Alltag für trans und nicht-binäre Menschen voller Hürden – trotz Selbstbestimmungsgesetz. Denn strukturelle Diskriminierung verschwindet nicht durch Gesetzesreformen allein. Sie zeigt sich in Ämtern, in Gerichten, in Medien, in der Medizin. Noch immer werden queere Jugendliche in Schulen nicht ausreichend geschützt – weil ihre Realität in vielen Lehrplänen entweder verschwiegen oder problematisiert wird. Und noch immer werfen konservative Stimmen queerer Aufklärungsarbeit vor, sie würde Kinder „frühsexualisieren“. Frühsexualisierung? Ist das euer Ernst? Es geht hier nicht um Sexualisierung. Es geht um Sichtbarkeit. Darum, dass Kinder sich in der Welt wiederfinden dürfen – so wie sie sind.
Solange Gleichstellung vom Wohlwollen abhängt – und nicht vom festen Fundament gleichwertiger Teilhabe –, bleibt unsere Sichtbarkeit immer bedroht. Sie bleibt abhängig der Stimmung anderer, vom politischen Wind - oder Gegenwind.
Die Regenbogenfahne ist kein Lifestyle. Ich kann es echt nicht mehr hören. Die Regenbogenfahne ist ein Schutzschild. Für alle, die zu lange ohne Schutz leben mussten. Für queere Jugendliche, die nicht wissen, ob sie morgen in einer solchen Welt voller Ablehnung noch leben wollen. Für trans Menschen, die nicht wissen, ob sie gleich, wenn sie ihr Zuhause verlassen und nur schnell zum Kiosk wollen, brutal zusammengeschlagen werden. Für Lesben, Schwule, bi, inter, nicht-binäre Menschen, die sich jeden Tag entscheiden müssen: Sichtbar sein – oder sicher bleiben? Diese Fahne ist kein Accessoire. Sie ist ein Versprechen. Sie sagt: Du bist nicht allein. Und sie sagt: Du bist richtig. Genau so, wie du bist.
„Sexualität gehört in die eigenen vier Wände“ – wirklich? Dieser Satz taucht immer dann auf, wenn queere Menschen sichtbar werden. Nicht, weil sie über Sex sprechen. Sondern weil sie es wagen, als sie selbst in Erscheinung zu treten. Wenn ein heterosexueller Mann von seiner Frau spricht, denkt niemand an sein Bett. Wenn eine lesbische Frau ihre Partnerin erwähnt, ist es plötzlich „zu viel“, „zu privat“. Wenn ein trans Mensch auf die korrekten Pronomen besteht, wird es als übergriffig empfunden.
Dabei zeigen heterosexuelle Menschen ihre Beziehungen permanent: durch Erzählungen im Kollegenkreis, durch das Urlaubsfoto auf dem Schreibtisch, durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie sagen dürfen, mit wem sie ihr Leben teilen, mit wem sie im Urlaub waren. Und doch denkt niemand, sie sprächen über Sex. Wenn queere Menschen dasselbe tun, wird es plötzlich sexualisiert, problematisiert, verdächtigt. Warum? Das Problem ist, dass viele von euch nie lernen mussten, mit unserer Realität umzugehen – weil ihr nie gezwungen wart, sie überhaupt wahrzunehmen.
Es ist unbequem, wenn das Unsichtbare eine Stimme bekommt. Ich weiß. Wenn Menschen, die jahrzehntelang angepasst funktionierten, beginnen, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen – nicht aus Eitelkeit, sondern aus Not. Wenn sich die gesellschaftliche Mitte plötzlich erklären muss – nicht weil sie feindlich war, sondern weil sie sich selbst nie in Frage gestellt hat. Aber da müssen wir jetzt ein für alle Male durch.
Die eigentliche Frage ist nicht, ob wir zu laut sind. Die Frage ist: Warum wart ihr so lange so still? Still, wenn Menschen wie wir heute auf der Straße geschlagen werden. Still, wenn Kinder wie wir sich heute noch in Schulen verstecken – aus Angst, ausgelacht, gemobbt oder allein gelassen zu werden. Still, wenn Parteien queerfeindlich agieren – und ihr sagt: „Aber sie sind wirtschaftlich kompetent.“ Oder ihr euch genervt fragt „Ja, haben wir denn keine anderen Probleme in unserem Land?“
Warum bliebt ihr still, wenn Kolleg*innen Witze über uns machen – und ihr sogar mitlacht. Und ja – ich weiß, dass diese Stille nicht immer bösartig ist. Oft ist sie Ausdruck von Unsicherheit, von Überforderung, von einem tief verinnerlichten Reflex, sich nicht einmischen zu wollen. Aber eure Stille bleibt folgenreich. Denn Schweigen wirkt. Schweigen ist ein Raum – und wenn ihr ihn nicht füllt, tun es andere. Mit Lügen. Mit Hass. Mit Ideologien, die sich als „gesunder Menschenverstand“ tarnen und in Wirklichkeit die Grundwerte dieser Gesellschaft attackieren.
Unser CSD, unser Pride ist kein Fest. Kapiert das endlich doch mal. Pride war und ist immer noch Protest. Gegen das Vergessen. Gegen die Behauptung, es sei alles erreicht. Gegen euer Glauben, ihr hättet alles richtig gemacht. Gegen die Idee, wir müssten dankbar sein für die Ehe für alle – obwohl das Grundgesetz noch immer nicht sagt, dass niemand wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt werden darf.
Unser CSD, unser Pride ist gegen die Logik der neuen Rosa Listen, die Bundesinnenminister wieder einführen will und damit unsere Community in größte Gefahr bringt. Gegen politische Ausgrenzung, gegen transfeindliche Rhetorik, gegen die gezielte Delegitimierung queerer Existenzen durch Kampagnen, Schlagzeilen, Hassreden.
Wir feiern, weil jeder CSD, jeder Tanz, jeder Kuss im öffentlichen Raum ein Nein ist – ein Nein zu Gewalt, zur Angst, zur Unsichtbarkeit. Aber auch ein Ja: Ein Ja zum Leben. Ein Ja zur Zukunft. Ein Ja an die queeren Jugendlichen, die noch keinen Ausweg sehen und eine lebensfrohe Zukunft verdienten. Die sich aber tagtäglich selbst verletzen. Die sich nicht mehr vorstellen können, erwachsen werden zu wollen. Ich frage immer wieder auch mich selbst: Sollen wir gerade in diesen Zeiten feiern? Da bin ich hin und her gerissen. Und heute Nacht um 2 Uhr, als ich diesen Text geschrieben habe, wurde mir wieder klar: Wir feiern, weil gerade die queeren Kids uns brauchen. Und weil wir wissen, dass Hoffnung manchmal in einem Lächeln, mit einem Tanz beginnt.
Happy Pride, Berlin. Und an alle, die denken, wir seien zu dies oder zu das: Wir sind der Lärm, den ihr nie hören wolltet. Den ihr euch aber jetzt anhören müsst.



Kommentare